Arbeitsgemeinschaft für Heimatgeschichte Feuchtwangen
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Erinnerungen von Zeitzeugen - Übersicht



Im Alter von 10 Jahren hat Helga Deininger die Tage um den 20. April 1945 erlebt - Als ihre Familie Kanonendonner wahrnahm:

Den Schmuck und das Silberbesteck im Garten vergraben

Kranke und Verletzte lagen im Schulhaus - Die Brüder hatten ihre Bleisoldaten "gerettet" - Zum ersten Mal Jazzmusik gehört

FEUCHTWANGEN - Als Zehnjährige hat Helga Deininger den Einmarsch der Amerikaner in Feuchtwangen miterlebt: In einem Augenzeugenbericht schildert sie die Tage um den 20. April 1945.

"Als wir das Donnern der Kanonen hörten, die Crailsheim und die westlich von Feuchtwangen gelegenen Dörfer zerstörten, vergruben Mama und Opa Silberbesteck, Schmuck, Uhren und Fotoapparate in einer vorbereiteten Grube auf Opas Grundstück. Von der außerorts liegenden Scheune kam ein großer Wagen voll Heu für die Kühe und Ochsen in die hintere überdachte Hofeinfuhr, und im Hof wurden Eimer mit Fett versteckt. Schulunterricht hatten wir da schon seit längerem nur noch sporadisch in verschiedenen Wirtsstuben der Stadt, zu denen wir ein Scheit Holz zum Befeuern des Ofens mitzubringen hatten.

Im Schulhaus lag seit Herbst 1944 ein Teil der kranken und durch Fliegerangriff auf ihren Sonderzug verletzten Menschen des ausgelagerten Krankenhauses aus Saarbrücken. Die Nacht vom 19. zum 20. April verbrachten Mama und ich hauptsächlich am Fenster. Angst und Unruhe ließen viele Menschen nicht schlafen. Wir sahen voll Mitleid einige müde Soldaten, die den Marktplatz hinunter - und andere, die in Richtung Kronenwirtsberg liefen.

Um Mitternacht kamen unser Bürgermeister und zwei weitere Verantwortliche mit Fahrrädern den Marktplatz herauf. Einer davon war Apotheker Ziegelwalner. Von ihm erfuhren wir später, dass er in dieser Nacht es noch selbst getan oder - das weiß ich nicht mehr genau - andere veranlasst hatte, die an der Sulzachbrücke angebrachten Sprengköpfe wieder zu entfernen.

Mama rief den Dreien gute Wünsche zu, die sie bedrückt erwiderten. Dann schwangen sie sich auf ihre Räder und entfernten sich in Richtung Kronenwirtsberg.

Der 20. April startete mit wunderschönem Frühlingswetter. Aber Mama schickte uns und alle Hausbewohner in den Luftschutzkeller, weil sie zusammen mit einer der evakuierten Frauen von ihrem kleinen Beobachtungsfenster im Dachboden aus amerikanische Panzer und Panzerfahrzeuge auf dem Bretzenberg aufgereiht hatte stehen sehen. Gleich darauf pfiffen auch schon Geschosse über die Stadt hinweg, zum Weidenbusch und zur Ziegelei, weil sich dort noch deutsche Soldaten aufhielten.

Nach einiger Zeit endete diese Schießerei. Wie wir später erfuhren, war Herr Bock mit weißer Fahne den Amerikanern entgegengelaufen und hatte ihnen versichert, dass keine Soldaten und kein Widerstand in der Stadt sind. Die Panzer donnerten das Postgässchen herunter, verteilten sich auf dem Marktplatz und den anliegenden Straßen, begleitet von Infanteristen mit schweren Handfeuerwaffen im Anschlag.

Ein Panzer stellte sich mit ohrenbetäubendem Lärm vor unser Haus, die Kanone auf die Türe gerichtet. Soldaten sprangen ins Haus und durchliefen alle Zimmer, in denen wir erschreckt an den Wänden standen. Ein Soldat sprach deutsch und sagte den Frauen, dass wir in einer Stunde das Haus zu verlassen haben. Unterdessen hatte sich im Städtchen aber auch herumgesprochen, dass ein Schuhgeschäft Schuhe ohne Bezugsscheine und der "Haagen" Butter ohne Lebensmittelmarken verkaufen.

Vom Fenster aus konnte ich beobachten, wie Frauen mit Tellern voll Butter und Taschen, in denen Schuhe steckten, an den Häusern entlang und zwischen den vielen Panzern hindurch huschten. Meine späteren Konfirmationsschuhe waren da auch dabei. Unsere Tante in ihrer Rot-Kreuz-Uniform war auch am Marktplatz. Die Armee hatte das Rathaus besetzt, und dorthin wurde unsere Tante auch sofort abgeführt.

Nach einiger Zeit kam sie heim mit der Mitteilung, dass etliche Häuser am Marktplatz sofort zu räumen sind. Der Kommandeur - oder sein Adjudant - hatte deutsch mit ihr gesprochen. Und sie hatte ihm abringen können, dass wir zwei Stunden Zeit hatten mit der Auflage, dass in allen Zimmern Betten bereit zu stehen haben. So bezogen wir noch eine ganze Anzahl Betten für die amerikanischen Soldaten.

Dann zogen wir in ein schmales Haus in der Jahnstraße, das vorher als Lager für durchziehende deutsche Soldaten mit Stockbetten und Strohsäcken eingerichtet worden war. Meine beiden jüngeren Brüder hatten anstelle ihrer Luftschutz-Köfferchen mit dem Nötigsten ihre Bleisoldaten "gerettet". Im Häuschen ging es für uns Kinder schön eng zu, weil die evakuierten Kölner und ausgebombten Nürnberger Frauen mit ihren Kindern, die die Nacht im Greifen-Keller verbracht hatten, wieder zu uns kamen.

So wurde nun auf dem kleinen Kanonenofen ununterbrochen gekocht, damit alle etwas zum Essen bekamen. Ein freundlicher "Ami"-Lkw hatte die ganze Jahnstraße hoch weiße Kommisbrote auf die Straße geworfen, die wir mit Körben und Opas Leiterwagen aufsammelten und nach heißer Diskussion, ob die Brote wohl vergiftet seien oder nicht, dann doch tagelang aßen.

Unsere beiden Polinnen - Zwangsarbeiterinnen - versorgten uns weiterhin mit Lebensmitteln und Informationen aus dem Haus und fütterten die Tiere in den Ställen. Der eigentlich verantwortliche Pole mochte nicht mehr für Deutsche arbeiten und vertrieb sich die Zeit mit anderen nun freien Polen und russischen ehemaligen Kriegsgefangenen in der Jahn-Turnhalle.

Auf Bitten unserer Rot-Kreuz-Tante, die fast täglich auf der Kommandantur zu erscheinen hatte, durften wir - zirka 35 Personen - nach etwa zehn Tagen wieder in unser Haus. Außer der absichtlich verunreinigten Mehltruhe, einigen zerschlagenen Bottichen und Gläsern mit Eingemachtem, einem geleerten Weinkeller und Verschmutzungen war alles heil geblieben. Die "Amis" hatten nichts Nennenswertes "mitgehen" lassen. Da sie nun ausgeschlafen hatten, sahen wir sie kaugummikauend Fußball und Tischtennis spielen; und wir hörten erstmals Jazzmusik.

Sie waren wohl auch übermütig geworden, und eines Morgens schossen sie unser Storchempaar und seine Jungstörche auf unserem Hausdach tot. Wir Kinder schrien und heulten, und schnell waren auf dem Marktplatz viele Leute, die sich über das Geschehene empörten. Am nächsten Tag- und noch einige Tage länger - durften wir mit Genugtuung zusehen, wie etwa zwölf Soldaten auf dem Marktplatz strafexerzieren mussten. So wurde der Frevel der Soldaten einigermaßen gesühnt.

Durch die Einnahme Feuchtwangens gab es keinen Zug- und kaum privaten Autoverkehr. Aber Lastwagen mit gefangenen deutschen Soldaten, denen wir versuchten, Brot zuzuwerfen, fuhren durch die Stadt. Flüchtlinge und Heimatlose fuhren und wanderten durch die Straßen. Pfaffer Löhr errichtete im Gemeindehaus mit Helferinnen eine Art Volksküche, und wir stellten uns mit großen Milcheimern voll Tee auf den Marktplatz.

Das SS-Soldaten-Gefangenenlager beim Lagerhaus an der Sulzach belastete die Gemüter. So kamen unsere Mütter auf die Idee, die kleinen Buben mit einem Planwägelchen voll Lebensmittel dorthin zu schicken. Ganz tapfer zogen die auch los und ließen sich von den amerikanischen Soldaten am Zaun nicht abschrecken, sondern verlangten den "Kommander".

Der ließ sie auch wirklich in das Lager, und sie durften ihre Ware abladen. Stolz über die überwundene Angst und die Heldentat wurden sie daheim mit Lob und Dankbarkeit empfangen. Abends hörte man dann manchmal die Soldaten singen.

Von weiteren Kriegshandlungen blieb Feuchtwangen Gott sei Dank verschont. Vom Ende des Krieges haben wir dankbar im Rundfunk gehört, aber auch in Sorge um die fernen Lieben und die Zukunft."


Bericht im Feuctwanger Teil der FLZ am 20. April 2005